Als Entschuldigung für meine unentschuldbare und viel zu lange Abwesenheit, hab ich mir gedacht, ich könnte die Autorin vorstellen, die quasi meine Jugend begleitet hat. (Also nicht sie, sondern ihr Nesthäkchen.)
(Und zugleich kann ich euch aus erster Hand versichern, dass körperliche Arbeit viel zu anstrengend und zudem noch zeitraubend ist. Es wird Zeit, dass jemand etwas dagegen erfindet. Aber nicht ich, bin zu erschöpft.)
Zurück zu Else Ury. Ihre Nesthäkchen Bände bekam ich von meiner Mutter. Mag sein, dass schon meine Oma darin gelesen hat, alt genug sind sie. Zudem angeknabbert, da ich mal einen Wellensittich besaß, der sie besonders lecker fand. Und ich hab mich immer gefragt, woher die vielen Papierschnipsel kommen.
Mir war auch nie klar, in welcher Zeit sie spielen, sprich, um welchen Weltkrieg es sich handelt. Woran man auch sieht, dass sie komplett unpolitisch sind. Mit Ausnahme des einen Bandes, den ich allerdings nicht kenne, und der vom ersten Weltkrieg handelt.
Ich habe die Geschichten, den Werdegang und das Leben des Nesthäkchens Annemarie Braun über alles geliebt und immer wieder gelesen. Mit sicher viel Naivität, aber letztendlich handelt es sich unterm Strich und wurde sicherlich aus so konzipiert um eine durch und durch bezaubernde Geschichte.
Völlig erstaunt war ich über die Serie, die mir im Vergleich ausnehmend kalt erschien und das Augenzwinkern der Buchreihe vollkommen außer Acht ließ.
Aber wirklich entsetzt war ich, als ich erfuhr, dass Else Ury im KZ gestorben ist.
Deshalb eine kurze Zusammenfassung ihres Lebens:
Geboren wurde sie 1877 in Berlin und wurde 1943 in Auschwitz ermordet.
In der wilhelminischen Zeit und während der Weimarer Republik war sie eine durchaus bekannte und beliebte Kinderbuchautorin, bis sie als Jüdin unter dem Regime der Nationalsozialisten entrechtet, deportiert und umgebracht wurde.
Else Ury wuchs im gehobenen Mittelstand auf, zu einer Zeit, in der Mädchen wie ihr nicht viele Bildungsmöglichkeiten offen standen. Ihren ersten Erfolg erlebte sie mit ‚Studierte Mädchen‘, einer Geschichte, die von den ersten Möglichkeiten für Frauen handelt, ein Studium zu absolvieren.
Erfolg verbuchte sie mit ihren Jugend (Backfisch-) und Kindergeschichten, sowie mit Märchensammlungen und Familiengeschichten.
Den ersten Weltkrieg erlebte und verarbeitete sie als Patriotin. Das schlug sich auch in ihren Werken nieder, wie in dem Band ‚Nesthäkchen im ersten Weltkrieg‘, welcher – soweit ich weiß – nicht mehr aufgelegt wurde.
Der Patriotismus erklärt sich dadurch, dass Kaiser Wilhelm und Konsorten ihre jüdischen Mitbürger in den Krieg schicken wollten. (Beziehungsweise ihnen weismachten, dass es nun keine Vorurteile mehr gäbe, weil man sie ja für das Vaterland brauche. Ähnliches Verhalten gewisser Regimes beobachtet man in aktuellen Situationen immer wieder. Minderheiten sind einfach fabelhaftes Kanonenfutter. - Schluss damit, sonst muss ich mich wieder aufregen.)
Im Grunde war Else Ury eine vornehmlich unpolitische, auch konservative Frau, die ihre Augen vor der Wirklichkeit ihrer Zeit zu verschließen suchte. Sie erlebte die Ausgrenzung und Demütigung, lehnte dennoch eine Ausreise ab, bis die ihr unmöglich wurde.
Gleichzeitig würde ich sie als in vielen Punkten ihrer Zeit voraus einordnen, nicht zuletzt, weil mir selbst ihre Nesthäkchen–Reihe bis zu einem gewissen Grad als zeitlos erscheint.
Der Humor in den ersten Bänden wird mit heutigen Sitcoms verglichen, die späteren Bände atmen Toleranz und Vorurteilslosigkeit, wie sie andere Mädchenbücher vermissen ließen.
Im gehobenen Bürgertum aufgewachsen, schildert sie auch ein solches. Und dennoch machen ihre Figuren, ebenso wie ihr Stil beeindruckende Wandlungen durch.
Nesthäkchen beschreibt die Lebensgeschichte der Annemarie Braun von der Kindergartenzeit an bis zur ihrer goldenen Hochzeit. Es sind wunderbar geschriebene Geschichten, die Komik, Romantik und in späteren Bänden auch Tragik enthalten.
Jedem, der Else Ury eine konservative Lebenseinstellung vorwirft, möchte ich die Entwicklung entgegenhalten, die sie mit diesen wenigen Bänden durchlaufen hat.
Vom Nesthäkchen, das gerade noch verhindern kann, dass der Krieg es von seiner Familie abschneidet, bis zu der Großmutter, die ihre lang vermisste Enkelin aufnimmt, deren Lebensinhalt die humanitäre Arbeit darstellt, vergießt der Leser mit jedem Kapitel Tränen vor Lachen oder auch voller Wehmut.
Ein weiterer Punkt – wenn ich über das Frauenbild lese, von dem sie schreibt – lässt mich eine Bresche für sie schlagen. Seien wir doch ehrlich – ein fleißigeres, konservativeres Hausmütterchen als unsere Twilight Bella hat die Welt noch nicht gesehen.
Ihr gegenüber verkörpert Nesthäkchen als selbstständige, studierte Frau, die ihrem eigenen Kopf folgt, geradezu den Inbegriff der Emanzipation. (Vielleicht nicht ganz, aber aus der Zeit heraus betrachtet, unbedingt.)
Meiner Ansicht nach schrieb Else Ury wunderbar humorvoll und ebenso ergreifend. Man lebt mit ihren Geschichten und in ihnen. Und jetzt werde ich doch mal gucken, ob sich vielleicht im Internet mehr Lesestoff von ihr findet. Ist schon zu lange her, dass ich das Nesthäkchen in den Händen hatte.